Vortrag und Gespräch mit Herrn Prof. Dr. Henri Ménudier,
Mitglied der Französischen Akademie der Wissenschaften
Gemeinsame Veranstaltung der SOCIETÄT DUISBURG e.V., der
Deutsch-Französische Gesellschaft Duisburg und EuropeDirect
In den Räumen der SOCIETÄT DUISBURG e.V., 26. Oktober 2016
Wir erleben einen schönen Herbsttag, um diese Zeit ist die Sonne aber bereits am Horizont zu finden und mit dem flackernden Feuer im Kamin wissen wir: Das Winterhalbjahr in der Societät hat Einzug gehalten.
Zum Sektempfang stehen wir – beinahe dicht gedrängt – beieinander. Der Vorsitzende der Societät, Herr Dr. Ralf Tempel, begrüßt alle Anwesenden und betont in seinen Worten den Wert der heutigen, gemeinsamen Veranstaltung von Societät, DFG und EuropeDirect. Ganz besonders begrüßt er Herrn Generalkonsul Vincent Muller und den heutigen Vortragenden, Herrn Prof. Dr. Henri Ménudier. Letzterer ist Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaften an der Sorbonne, Publizist und Politikberater. Er gilt als Fachmann in den Bereichen „Deutschland nach 1945“ sowie in deutsch-französischen und europäischen Fragen.
Doch zunächst wenden wir uns dem heutigen Essen zu, wie immer gibt es Köstlichkeiten von unserem Caterer der Firma Borgards, die auch für die hervorragende Raum- und Tischdekoration gesorgt hat. Es ist eine Freude so festlich zu dinieren und dabei so spannende und gleichzeitig unterhaltene Gespräche zu führen.
Nun aber zum Hauptpunkt der heutigen Veranstaltung. Herr Dr. Tempel führt Herrn Prof. Dr. Ménudier ein, er verweist insbesondere auf seine reichhaltige Erfahrung als Politologe, als Buchautor, als Teilnehmer an zahlreichen Radio- und Fernsehsendungen in Deutschland und Frankreich und als Produzent von 20 Dokumentarfilmen für das deutsche Fernsehen.
Henri Ménudier geht als erstes auf das Deutsch-Französische Verhältnis ein, zieht für den Bereich Politik ein positives Fazit mit mehr als 70 Jahren Frieden, auch weil die Menschen den Dialog aufnahmen, so wie es die DFG Duisburg, die vielen Schulen und die anderen Organisationen schon so lange pflegen. Im Bereich der Wirtschaft gibt es allerdings große Unterschiede; Frankreich erscheint zunehmend abgekoppelt, und das hat großen Einfluss auf den Bereich der Zivilgesellschaft, in der sich Meinungsunterschiede auftun, aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung sowie der unterschiedlichen Historie, besonders bei Immigranten.
Er brauche nur die aktuelle Tageszeitung aufschlagen, da kommen täglich die Meldungen aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika. Aber als ehemalige Kolonialmacht, die darüber hinaus in den aktuellen militärischen Konflikten Afrikas und des Nahen Ostens verwickelt ist, bleibt Frankreich eine wichtige Zielscheibe des internationalen Terrorismus.
In Frankreich gibt es eine lange Tradition von Attentaten:
- Welle (nach dem 2. Weltkrieg), Regionalisten (Basken u.a.) unternehmen Angriffe auf Institutionen
- Welle (Algerienkrieg), erst General de Gaulle kann den Algerienkrieg beenden, der gleichzeitig ein innerfranzösischer Bürgerkrieg ist
- Welle (Action directe), Zusammenschluss von Autonomen, Anarchisten und spanischen Emigranten, die vor dem Franco-Regime geflohen sind, die Ausbildung der Terroristen erfolgt im Nahen Osten, hier gibt es viele Parallelen/gemeinsame Aktionen zu/mit der RAF in Deutschland
- Welle, als die Terroristen nach Kriegsende aus Afghanistan zurück kommen
- Aktuelle Welle (ab 2012):, Ziele sind nun das militärische Engagement Frankreichs im Nahen Osten und das Judentum, es sind ganze Gruppen, die gut vernetzt sind
Diese letzte Welle fand ihren Höhepunkt zunächst in dem Überfall auf die Redaktion von Charlie Hebdo Anfang 2015, wo erstmalig eine gesamte Redaktion ermordet wurde, am nächsten Tag wird ein Polizistin erschossen und am dritten Tag Juden in einem Geschäft, insgesamt 17 Tote plus die drei Terroristen, danach gab es in Frankreich die größte Demonstration seit dem 2. Weltkrieg.
Im November 2015 gab es wieder drei Attentate, im Stade de France beim Fußballspiel F-D, die Attentäter sind nicht hineingelassen worden, weil sie keine Eintrittskarten vorweisen konnten, zwei Attentäter sprengten sich in die Luft, der dritte fuhr zu den anderen beiden Gruppen, die im Ausgehviertel und in einem großen Konzertsaal wahllos auf Menschen schießen. Dabei sollte es noch weitere Attentate drei bis vier Tage später geben: In einer Schule, in einem Einkaufszentrum und auf einer Polizeiwache. Diese geplanten Aktionen konnten aber rechtzeitig vereitelt werden. Ein Terrorist entkommt nach Brüssel, dort wurden die Aktionen geplant, die Terrorismusbekämpfung ist dort weit weniger stark ausgeprägt, als anderswo.
Zwei anschließende Großereignisse (u.a. die Fußball EM) gehen ohne Terroraktionen zu Ende, bis es am Nationalfeiertag in Nizza zu der mörderischen Fahrt des großen, weißen LKWs auf der abgesperrten Promenade kam, 86 Menschen finden den Tod, ⅓ davon Muslime, durch einen Muslim. Knapp zwei Wochen später wird ein 80-jähriger Priester während der Messe ermordet.
Es gibt viele Traumatisierte in Frankreich, nicht nur bei den betroffenen Hinterbliebenen, auch Ärzten und Pflegern, die entscheiden müssen, wer z.B. zuerst eine Behandlung bekommt.
In Deutschland gibt es in den 70er Jahren die RAF, die eine Spur mit Toten und Verletzten hinterlässt, Frankreich ist durch die o.g. Action directe involviert, Martin Schleier wurde im Elsass tot aufgefunden. Stuttgart-Stammheim (Gefängnis für RAF Mitglieder) galt als Ausdruck des repressiven Polizeistaates, auch besonders in der französischen Presse.
Aber auch heute gibt es eine neue Welle, wie die jüngsten Ereignisse in Würzburg, München, Ansbach und Chemnitz/Leipzig zeigen. Unsere Sicherheit ist definitiv infrage gestellt. Es wird geschätzt, dass 840 IS-Kämpfer aus Deutschland stammen, davon sind 230 zurück gekehrt und 140 tot, 460 sind noch in Syrien und dem Irak. Was ist mit diesen Terroristen? Werden sie neue Attentate planen / durchführen oder haben sie abgeschworen?
Die aktuelle Lage ist besonders gefährlich, weil die Kriege der muslimischen Staaten eine große Anziehungskraft auf einen Teil der Jugend ausüben, welcher die Lebensart und die Werte des Westens radikal ablehnen. Deswegen muss man sich mit Ursprung, Formen, Organisation, Folgen und Bekämpfung des internationalen Terrorismus auseinandersetzen.
Die meisten Attentäter haben einen Migrationshintergrund, eine doppelte Staatsangehörigkeit und stammen aus Nordafrika oder dem Nahen Osten. Sie haben Probleme in der Familie, mit ihren Finanzen und oft eine straffällige Vergangenheit. Die Radikalisierung findet häufig in Gefängnissen und Moscheen statt. Und sie benutzen zur Kommunikation meistens das Handy und das Internet, haben einen großen Hass gegen den Westen, die Nationalstaaten und die Rolle der Religion, aber sehr begrenztes Wissen über die Religion selbst. Ein spezielles Problem stellen die Konvertiten da, die radikalisierte Islamisten noch übertrumpfen wollen und die jungen Frauen, die als „Gebärmaschine“ gesehen werden und sich als besonders aggressiv hervorheben wollen.
Die Frage geht natürlich an uns: Was treibt diese Menschen an? Es ist ein Scheitern in der Familie, in der Schule, in der Gesellschaft schlechthin auch durch Ausgrenzung und prekäre Wohnverhältnisse. Aber warum scheitert die Integration?
Wie konnte der Terrorismus in seiner jetzigen Form so erblühen?
- Er entsteht aus der Gesellschaft , da der Nährboden dafür vorhanden ist
- Aus den internationalen Beziehungen, den Konflikten zwischen den Ländern
- Gründung des Staates Israel (es gab vier Nahost Kriege) und kein Staat der Palästinenser
- Problem Iran, seit dem Machtantritt Chomeinis
- Problem Afghanistan, als Stellvertreterkrieg Sowjetunion – USA, viele ehemaligen Kämpfer haben sich anschließend weitgehend verteilt
- Problem Irak, als zwei Entscheidungen der USA: Auflösung von Staatspartei und Armee dazu führte, dass viele davon zu Terroristen konvertierten
- Problem Syrien, da seit 2011 so viele verschiedene Gruppen gegeneinander kämpfen
- Problem Jemen, ebenfalls ein Stellvertreterkrieg Iran – Saudi Arabien/USA, es geht um die Vormacht am Golf (Erdölreserven)
- Problem Algerien, jetzt relativ ruhig, aber was wird, wenn der alte Präsident stirbt
- Problem Türkei, möchte überregionale Macht darstellen, keine Duldung eines Kurdenstaates
Es geht um eine existentielle Herausforderung: Die Vereinbarkeit von Islam, Demokratie und Menschenrechte sowie der Beitrag Europas zur Lösung der Konflikte. Demokratie ist schwer durchsetzbar ohne eine eigene Geschichte der Demokratie. Diese gilt es zu stärken.
Wie gebannt sitzen wir an unseren Tischen, wir erleben eine brillante Analyse eines Politologen, der die Wurzeln des Terrorismus, die weit zurück reichen, offen legt.
Geduldig beantwortet Herr Prof. Dr. Ménudier die zahlreichen Fragen aus dem Auditorium. Auch lange nach dem offiziellen Schluss steht er Einzelnen noch Rede und Antwort. Ein denkwürdiger Abend geht langsam zu Ende.
(Text: Dr. Ralf Tempel, Fotos: Dr. Michael Greeske)